von Kai Schlieter
Maschinen lernen Sehen, Hören, Sprechen, Fühlen und zu entscheiden. Sie lernen dies, weil Sensoren die physikalische und soziale Welt in eine Sprache verwandeln, die sie verstehen: in Daten. Sie lernen, unsere Welt in ihrer Welt mathematisch zu repräsentieren und auf diese Weise zu verstehen. Sie optimieren dieses Verstehen permanent und sind in der Lage, enorme Datenmengen zu prozessieren. Primär ist nicht die Frage, ob solche Systeme ein Bewusstsein erlangen – das ist derzeit rein spekulativ; maßgeblich ist die Fähigkeit, Lernen zu lernen und jenseits von Vorgaben neue Lösungen zu entdecken. Es geht um automatisierte Informationsverarbeitung. Diese Schlüsseltechnologie wird unter dem Sammelbegriff „Künstliche Intelligenz“ gefasst.
Die jetzigen Durchbrüche sind eine physikalisch erklärbare Folge exponentiell wachsender Rechenleistung und ebenso exponentiell wachsender Datenuniversen. Etwa seit 1965 verdoppelt sich rund alle 18 Monate die Rechenleistung, die für einen Dollar zu haben ist. Alle zwei Jahre verdoppelt sich die Datenmenge.
Immer wenn von Big Data die Rede ist, verbirgt sich als Schlüsseltechnologie dahinter Künstliche Intelligenz. Eine Technologie, die militärischen Ursprungs ist. Ohne Künstliche Intelligenz würde die NSA in einem Meer von Daten untergehen.
Künstlich intelligente Systeme reprogrammieren sich ohne menschliche Hilfe und lösen Probleme, die von Menschen aufgrund der Komplexität nicht modellierbar wären.
Wenn das Programmieren auf die Automatisierung künftiger Prozesse abzielt, dann bedeutet Künstliche Intelligenz die Automatisierung des Programmierens, wie ein führender US-Informatiker schreibt. Künstliche Intelligenz bedeutet also die Automatisierung der Automatisierung.
Bereits heute basieren 70-80 Prozent der US Stock Exchange auf Hochfrequenzhandel: Computer dealen in Millisekunden mit anderen Computern auf der Basis von Wirtschaftsinformationen, die zum Teil ebenfalls Computer generiert haben. Ein sich selbst steuernder Prozess, der für die Weltwirtschaft maßgeblich ist. Der Wirtschaftshistoriker Philip Mirowski spricht von einer „Cyborg-Ökonomie“. Ein automatisierte Finanzindustrie, bei der permanente Mikrocrashs von Computern verursacht werden, deren Ursachen für Menschen nicht mehr nachvollziehbar sind.
Wir werden uns nicht deswegen mit KI beschäftigen, weil wir es wollen, sondern weil wir es müssen. Denn Künstliche Intelligenz ist mehr als nur ein technisches Artefakt, es handelt sich um eine Technologie, deren Wesenskern die Eigenständigkeit ist. Die Komplexität heutiger Systeme ist bereits nicht mehr nachvollziehbar.
Die Fähigkeit, intelligent Informationen zu prozessieren machte Menschen zur erfolgreichsten Spezies. Sehen, hören, sprechen, fühlen und Entscheidungen treffen bilden die Grundlage unserer kognitiven Fähigkeiten. Und alles, was Menschen hervorgebracht haben, basiert darauf. Sie werden Menschen nicht göttlich eingehaucht, sondern durch Erziehung und Sozialisation erlernt. Mit wachsender Rechenleistung und Datenmengen sind Maschinen in der Lage, automatisiert Lernen zu lernen und prinzipiell jedes beschreibbare Problem zu lösen. Es ist daher vermutlich nicht nötig, menschliche Intelligenz zu entschlüsseln. Die gegenwärtige Revolution basiert darauf, basale Mechanismen des Lernens zu automatisieren.
IT-Giganten entwickelten auf diese Weise Systeme, die Bücher „lesen“ oder Videos anschauen können und dann inhaltlich Fragen dazu beantworten. Es existieren bereits jetzt künstliche neuronale Netze, die nicht nur Gesichter und Objekte auf Fotos oder in Videos erkennen; diese Systeme können die Beziehungen der einzelnen Objekte zueinander analysieren. Sie kombinieren Sehen und Verstehen. Das KI-System IBM Watson, mit dem man sich unterhalten kann, wurde zu einer eigenen Sparte ausgebaut, in die der Konzern eine Milliarde Dollar investiert. Dieses System kann zehntausende wissenschaftlicher Krebsstudien „lesen“ und daraus Schlussfolgerungen ziehen. Es wird zur Krebsdiagnosen in US-Krankenhäusern eingesetzt. VITAL ist ein KI-System, das einen gleichberechtigten Sitz im Aufsichtsrat eines Wagniskapitalgebers bekam.
Menschen organisieren ihr Leben über das Internet, Facebook ist die Daten-Bibliothek der sozialen Beziehungen von 1,5 Milliarden Menschen. Wir sind mit dem Smartphone permanenten mit der Welt vernetzt, und so, wie wir durch Bewegung Luft verdrängen, erzeugen wie gleichzeitig Daten. All diese Daten können in komplexen Modellen in Beziehung gesetzt werden. Daraus lässt sich errechnen, was wir mögen, wen wir lieben, wer wir sind und wie all dies in Zukunft sein wird. Das ist kein Science Fiction sondern Gegenwart. Weltweit nutzen Strafverfolgungsbehörden und Geheimdienste solche Methoden, um Verbrechen der Zukunft zu prognostizieren – auch in Deutschland. Denn Verhalten ist berechenbar.
Mit Künstlicher Intelligenz sind Menschen lesbar geworden. Die Persönlichkeit kann geröntgt werden wie das Skelett. Von Milliarden Menschen. In Echtzeit. Der intelligente Umgang mit Daten repräsentiert eine nie dagewesenen Macht der IT-Oligarchen. Im Silicon Valley gilt KI deswegen als DAS Thema schlechthin. Diese Konzerne besitzen die Daten, die Serverfarmen mit den entsprechenden Rechenleistungen und die größten Forscherteams im Bereich der Künstlichen Intelligenz.
Deswegen befinden wir uns im Zeitalter des Informationskapitalismus, wie Frank Schirrmacher sagte. Wurde die industrielle Revolution durch Kraft und Energie ermöglicht, wird die Gegenwart von Daten und Informationen revolutioniert.
Wer mithilfe lernender Systeme in die Lage versetzt wird automatisiert menschliches Verhalten zu lesen und zu prognostizieren, bekommt nie dagewesene Macht. Obama sicherte sich 2012 mit solchen Systemen die Wiederwahl. Sein Datenteam verschlang 100 Millionen Dollar. Wer die Zukunft kennt, kann versuchen, sich danach strategisch auszurichten. Wer die Zukunft kennt, kann aber auch versuchen, darauf Einfluss zu nehmen.
Das geschieht permanent und unbemerkt, weil uns selbst unsere Zukunft nicht bekannt ist. Google entscheidet heute bereits über den Ausgang von Wahlen, wie der renommierte Psychologe Robert Epstein in einer Studie kürzlich darlegte. Versicherungskonzerne können berechnen, wann wir Verträge stornieren, welche Krankheiten uns ereilen oder ob wir bei Versicherungsfällen die Wahrheit sagen.
Daten verändert das Bild vom Menschen. Das Individuum wird zum statistisch zerlegbaren Fragment. Der Mensch als unantastbares Ganzes gerät zu einem Modell der Vergangenheit.
Im neoliberalen Kapitalismus entstand der Unternehmer seiner selbst, der sich und seine Arbeitskraft als Ware zu vermarkten hatte, wie Foucault schrieb. Im Informationskapitalismus ist das ökonomisch nach Verhaltensklassen gescorte Individuum entstanden, das nur noch aus einzelnen Typologie zusammengesetzt ist, die als Datenschatten sichtbar und verkauft werden.
Der Informationskapitalismus verbindet sich in dieser Ausprägung mit einem techno-religiösen Glauben, der darauf setzt, mithilfe solcher Systeme und den Daten auch Prozesse der Alterung zu entschlüsseln und zu lösen.
Larry Page und viele andere möchten nach eigenen Aussagen die eigene Lebensspanne immer weiter ausdehnen und gründeten zu diesem Zweck eigene Firmen. Es geht daher nicht nur um ein ökonomisches Modell. Der Datenkapitalismus ist zu einer religiösen Mission sehr mächtiger Männer geworden.
Kommentare sind derzeit nicht möglich.